Freitag, 28. Dezember 2012

"Viele Wege führen nach Rom!" Über die verschiedenen Wege zur Reitkunst

„Rom“ sei die klassische Reitkunst. Lassen Sie uns diese folgendermaßen definieren: Die Klassische Reitkunst ist die Fähigkeit, das Pferd durch Güte und logisch aufgebaute Übungen, die auf den Naturgesetzen von Gleichgewicht und Harmonie basieren, so auszubilden, dass es sich zufrieden und selbstbewusst dem Willen des Reiters unterwirft, ohne dass sein natürlicher Bewegungsablauf auf irgendeine Art darunter leidet“ (Anja Beran: Aus Respekt!)

Mehrere große Institutionen, aber auch einzelne Personen, deren Anhänger  beziehungsweise Nachahmer und einige (selbsternannte…) „Gurus“ unterschiedlichster Couleur beanspruchen den Begriff der Klassischen Reitkunst für sich. Dass die sich nicht immer einig sind ist klar - teilweise verfolgen diese Menschen sogar konträre Herangehensweisen an die Reitkunst.
Da gibt es durchaus böses Blut und gegenseitige Anfeindung. Das  war ja auch schon immer so. Heute allerdings nehmen an der Diskussion über die „wahre, echte“ klassische Reitkunst nicht nur Reitmeister in gelehrten Schriften teil, sondern auch Lieschen Müller im Internetforum. Bezeichnenderweise sind es aber nur sehr, sehr selten die existierenden Reitmeister selbst, die von sich behaupten, sie alleine hätten den Schlüssel zum Erfolg, die Fahrtkarte nach Rom. Sondern es sind die überehrgeizigen Anhänger und Nachahmer, die meinen, sich vehement gegen andere Reitweisen abgrenzen müssen.

Ich mache da nicht mit. Denn ich sehe das so:
Zum einen ist Rom eine verdammt große Stadt. Die klassische Reitkunst ist wie oben zwar klar definiert, das heißt wir sprechen alle (!) von einem natürlichen, pferdeschonenden und gesunderhaltenden, also gymnastizierenden Reiten. Dennoch ist das ein weites Feld. Nun möchten - bildlich gesprochen - die modernen Baucheristen aber vielleicht zum Trevi-Brunnen, die Wiener zum Colosseum und die Branderup-Ritter zum Vatikan. Die iberischen Stierkämpfer sehen’s pragmatisch und wollen halt auf effizientem Wege in die Innenstadt. Aber egal auf was der Einzelne nun besonderen Wert legt, wir befinden uns doch alle innerhalb derselben Stadt!
Zum anderen führen gewaltig viele Wege nach Rom. Wer über den Seeweg kommt, dem mag vielleicht die Insel Korsika noch die Sicht auf Rom versperren, aber er ist genauso weit weg wie jemand, der von der Schweiz aus fährt und schon die Grenze nach Italien überquert hat. Die Art des Reisens ist halt jeweils anders - aber wer will sich denn bitte  anmaßen, eine davon abzuwerten?!

Alles ist für irgendetwas gut und für irgendetwas anderes nicht gut! Die Kunst ist, zu sehen, wo man selbst in diesem Augenblick und mit diesem speziellen Pferd gerade steht und welche Übungen einem weiterhelfen in Richtung Rom!
Zwei Beispiele: Die starke Biegung des Pferde(halse)s, die oft bei „Branderupleuten“ kritisiert wird, ist (richtig angewendet!) „gut“ für die Dehnung der außenseitigen Muskulatur und damit für die Losgelassenheit des Pferdes - ein Schritt in Richtung Rom. Aber je nach Pferd/Reiter-Konstellation eben  auch „nicht gut“, weil sie das Vorgreifen des inneren Beinpaares einschränkt und damit Schwung wegnimmt. Falsch angewendet führt die Übung dazu, dass die Pferde über die äußere Schulter wegeiern, keine Linie mehr einhalten können und die Reiter nur noch am inneren Zügel um die Kurve zerren - meilenweit von Rom entfernt.

Die viel zitierte, viel kritisierte „Hohe Hand“ der „Légèretéleute“ ist (richtig angewendet) „gut“ für das Lockern des Kiefers und das Öffnen des Genicks - natürlich ein wichtiger Schritt in Richtung Rom. Anderseits kann das übertriebene Heben der Hände aber je nach Exterieur eines Pferdes auch zu gänzlichem Abbrechen im Widerrist führen. Falsch ausgeführt (nämlich von Leuten, die nicht über die entsprechende Sitzgrundlage verfügen und kein Maß halten können) führt das Konzept dazu, dass „die Hinterhand zuhause bleibt“ und die Pferde giraffenartig durch die Gegend schlurfen - meilenweit von Rom entfernt.
Diese beiden kleinen Beispiele (womit ich ewig weitermachen könnte…) sollen verdeutlichen, wie wichtig die individuelle Einschätzung eines Pferd-Reiter-Paares ist. Nicht alles, was dem einen hilft, hilft auch dem anderen! Nicht alles, was prinzipiell gut ist, ist derzeit richtig für mein Pferd und mich. Und umgekehrt: Nicht alles, was mir und meinem Pferd geholfen hat, muss allgemeingültig sein.

Wer denkt, er wäre schon auf der Autobahn nach Rom und rechts und links des Weges Sicht- und Lärmschutz installiert, der wird am Ziel vorbeirauschen!
Um sich nicht festzufahren, hilft nur, ständig das eigene Handeln zu reflektieren um zu sehen, was für was nutzt!

Wechseln Sie nicht alle paar Monate den Reitlehrer und verteufeln ihren vorherigen! Leugnen Sie nicht ihre reiterliche Herkunft. Rennen Sie aber auch nicht jahrelang blind einem  vermeintlichen Meister hinterher, der Sie irgendwo an der italienischen Grenze im Kreis herum führt.
Es folge jeder seinem persönlichen Weg, bleibe dabei offen für andere Einflüsse und respektvoll auch fremdartigen Ansätzen gegenüber, die er (noch) nicht versteht!

Denn wenn man genug reitet, dann kommt der Tag und es kommt das Pferd, für das man doch nochmal das Buch xy aus dem Regal nimmt und einem ein Licht aufgeht… und man aufgrund praktischer Erfahrung dann vermeintlich konträre Ansätze im eigenen Verständnis der Klassischen Reitkunst sinnbringend integrieren kann.
In diesem Sinne: Viel Freude beim respektvollen, toleranten Reiten nach Rom.

 

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