Samstag, 22. September 2012

"Hinter der Senkrechten" - Beobachtungen aus der Praxis und eine Meinung, die ganz ohne Geodreieck auskommt

Seit Monaten (es kommt mir schon wie Jahre vor!) tobt die Rollkurdiskussion durchs Internet.  Praktisch jeder weiß, dass es nach klassischen Richtlinien „falsch“ ist, das Pferd im Hals zu rollen und mit der Stirn-Nasenlienie „hinter der Senkrechten“ zu reiten. Hier im Netz  kursieren zahlreiche Aufklärungsbilder, die diese Haltung als Tierquälerei anprangern.

Dummerweise sind die Gründe, warum ein Pferd (zumal auf einem Foto!) mit einer nicht perfekten Kopf- und Halshaltung gehen könnte, sehr unterschiedlich.
 Zum einen gibt es die wirkliche Rollkur, die ihre erklärten Anhänger hat. Deren Pferde werden mit voller Absicht und systematisch im Hals gerollt (auch als Low, Deep and Round Trainingsmethode bezeichnet). Dass die Nase dabei fast die Brust berührt, ist Folge der Hals“formung“.  Diese Trainingsmethode ist selbstverständlich diskussionslos abzulehnen und ich halte es für richtig, wie sehr sie angeprangert wird - mit dem Ziel, sie offiziell auf Sportveranstaltungen einzudämmen.

Dann gibt es aber auch noch das schlichte „Hinter der Senkrechten“ gehende Pferd - dieses ist sehr viel häufiger und oftmals nicht einmal Absicht des Reiters.  Wenn das Pferd  zu eng im Genick geht, ist das selbstverständlich auch „falsch“ im Sinne der Reitlehre - aber das kann in einem ganz normalen Ausbildungsprozess von Mensch und Pferd einfach vorkommen! Ist ein Pferd sehr leicht im Genick gebaut und hat vielleicht auch noch etwas viel Schub, dann braucht  der Reiter auch nur einen Moment lang nicht ganz die optimale Handhaltung und -Höhe einzuhalten und ruckzuck  kommt das Pferd  „hinter die Senkrechte“, weil es sich im Maul gebremst oder gestört fühlt - und das ganz ohne Rollkurintention des Reiters! Das Pferd im unmittelbaren Anschluss dazu zu bringen, den Genickwinkel (wieder) zu öffnen, bedarf eines ganz feinen Zusammenspiels zwischen Gewichts-, Schenkel- und Zügelhilfen. Vielleicht war auch die Lektion an sich falsch interpretiert (seitens des lernenden Reiters!) und man bekommt das Pferd über eine geänderte Übungsreihe/anderes Tempo/etc. wieder dazu, ehrlich nach vorne an die Hand zu treten. Genau das ist die Kunst des Reitens und - noch schwieriger - die Kunst des Lehrens!
Ich kenne eine Vielzahl von Reitern, die schlicht und einfach lernen müssen, wann und warum ihr Pferd manchmal zu eng im Genick wird und vor allem, wie sie dann ihren Sitz ändern und was genau sie reiten sollen, damit es wieder  nach vorne „zieht“.  Diesen Menschen und ihren Pferden nutzt es rein gar nichts, wenn sie dann auch noch als „Rollkurler“ hingestellt werden - dass die Nase vor die Senkrechte gehört, weiß schließlich jeder Interessierte. Nur wie das GEHT, das ist eben bei manchen Pferd/Reiter-Kombinationen schwierig! Wenn sich der selbstkritische  Mensch dann kaum überhaupt noch traut, die Zügel anzufassen und sie statt korrektem Nachgeben ständig ruckartig wegwirft, wird das Vertrauen des Pferdes in die Reiterhand (und damit seine Haltung!) doch nur schlechter und nicht besser.

Ich persönlich frage mich außerdem, ob die Leute, die sich so krampfhaft auf die Kopfstellung des Pferdes fixieren und diese am liebsten per Geodreick beurteilen und bewerten möchten vielleicht in Wirklichkeit selbst noch kein klassisch ausgebildetes Pferd genießen durften. Es geht schließlich um die Gesamtbewegung eines Pferdes, der ganze Körper hängt (und schwingt im Idealfall) zusammen. Da gibt’s noch eine Vielzahl anderer Indikatoren, was genau gerade richtig oder falsch läuft.  Zu spüren wenn etwas „falsch“ ist, nutzt außerdem nur dann, wenn man auch spürt  und weiß, wie man das Problem verbessern kann. Es geht um die Vermittlung ganz konkrete Wirkzusammenhänge und nicht darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen!
Was die Hinter-der-Senkrechten-Debatte angeht, teilt sich also die Reiterwelt für mich in drei Kategorien:  Zum einen die Hardcore-LDR=Rollkur-Trainierer. Die sind für mich diskussionslos gestorben und werden ignoriert. Zum anderen oben genannte nette, interessierte Leute, die schlicht und einfach noch nicht perfekt reiten können (also WIR alle…).

Die dritte Gruppe ist meines Erachtens die einzige Problemgruppe: Das sind die, die im Prinzip auch keine Rollkur reiten, aber dennoch ihr Pferd dauerhaft überzäumt reiten - weil sie denken, das sei so „normal“.
In meinem Bekanntenkreis gibt es neuerdings einen (Berufs?!)-Reiter, der seine Pferde für die gesamte Dauer seiner Reiteinheit zu eng im Hals reitet. Er zieht weder grob rückwärts noch rollt er die Pferde absichtlich auf - er gestattet einfach deutlich zu wenig Rahmen. Die Pferde haben sich offenbar damit angefunden, dass Ihnen der Hals als Balancierstange genommen wurde und bleiben in der Haltung, ohne Kraftanstrengung des Reiters. Wahrscheinlich kennt ihr das Bild - um es polemisch auszudrücken, er ist „der typische FN-Reiter“.  Seiner Meinung nach „muss“ das Pferd so gehen, denn es  muss  ja „durchs Genick“. Hätte das Pferd die Nase vor der Senkrechten, würde also korrekt (und zwar nach der FN-Reitlehre korrekt!!)  durchs Genick treten, hätte dieser Typ Reiter mit Sicherheit den Eindruck, das Pferd ginge eben gerade dann NICHT mehr durchs Genick.

Und das ist das echte Problem : Leute, die ihre eigene Reitlehre missverstehen, die vor lauter Angst, das Pferd ginge dann nichtmehr durchs Genick, überhaupt nicht fühlen können, wie viel BESSER das Hinterbein durchschwingen, wie viel besser sich die Gänge entfalten könnten,  ließen sie nur etwas mehr Rahmen zu.
Ich glaube nicht einmal, dass seine Pferde sich nennenswert gequält fühlen (immerhin sitzt er gut und zerrt nicht ersichtlich an ihnen herum). Es sind ganz talentierte Sportpferde, die sich trotz seiner Reitweise offenbar immer noch ganz gut ausbalancieren können - sie bleiben aber durch diese Kopf-Hals-Haltung deutlich hinter ihrem eigentlichen Potential zurück!

Mein Problem mit diesem (solchen…) Menschen ist ihre Vorbildfunktion. Er ist der sympatische junge „Star“ seines Stalles - einem Kinderreitbetrieb! Er reitet seine Pferde von Aufsitzen bis zum Absitzen in genau dieser Haltung und das bedeutet, selbst wenn er diese Haltung im Unterricht nicht auch noch extra propagiert (darüber kann ich nichts sagen, das weiß ich gar nicht) ist es für all diese Menschen, die in diesem Reitbetrieb aufwachsen, „normales Reiten“.
Nur dass es eben falsch ist und man auf diese Weise niemals weiter kommt als vielleicht  E oder A Niveau - vom Genuss der echten klassischen Reiterei ist man weiter entfernet als Menschen, die überhaupt nicht reiten.

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